Zahlen und Fakten zu ADHS: Mythen vs. Realität
- David Beck
- 18. März
- 5 Min. Lesezeit
Warum es sich lohnt, genauer hinzuschauen – und wie Statistiken helfen können, gängige Vorurteile abzubauen

ADHS – Wie viele sind überhaupt betroffen?
Globale Prävalenz und Schwankungen
Studien zeigen, dass bei Kindern weltweit zwischen 5 und 7 % von ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) betroffen sein könnten (Polanczyk et al., 2015). Bei Erwachsenen liegen die Zahlen, je nach Land und Diagnostikkriterien, meist zwischen 2 und 5 % (Faraone, Biederman & Mick, 2006). Diese Differenzen gehen auf unterschiedliche Diagnosekulturen, Screening-Verfahren und gesellschaftliche Einstellungen zurück.
In Deutschland wird die Prävalenz bei Kindern und Jugendlichen oft mit etwa 5 % angegeben. Bei Erwachsenen tappt man lange Zeit im Dunkeln, weil ADHS erst seit einigen Jahren systematisch im Erwachsenenalter erfasst wird (Kessler et al., 2006). Das bedeutet: Es gibt eine Dunkelziffer an unerkannten Fällen, da viele ältere Generationen nie auf ADHS getestet wurden. Infolgedessen sieht man in den letzten Jahren einen Anstieg an Diagnosen – aber das liegt vermutlich mehr an der steigenden Sensibilisierung als an einem „echten“ Zuwachs.
Geschlechterverteilung
Ein Mythos besagt, ADHS betreffe vor allem Jungen bzw. Männer. Tatsächlich werden Jungs schon früh als „Zappelphilipp“ auffällig, während Mädchen ADHS oft mit mehr Unaufmerksamkeit und geringer Hyperaktivität zeigen (Brown, 2013). Das führt zu einer Unterdiagnose beim weiblichen Geschlecht. In der Erwachsenenwelt stellt man fest, dass viele Frauen erst jenseits der 30 erfahren, warum sie jahrelang unter Konzentrationsproblemen, Stimmungsschwankungen oder scheinbar „chaotischem“ Verhalten litten.
Mythen und Vorurteile – Wie die Statistik oft verzerrt wird
„ADHS gibt es nur bei Kindern“
Einer der bekanntesten Mythen lautet, ADHS verschwinde mit der Pubertät. Doch zahlreiche Studien belegen, dass ein großer Teil der Betroffenen auch im Erwachsenenalter Symptome zeigt (Faraone, Biederman & Mick, 2006). Zwar können sich die Anzeichen verändern – hyperaktive Kinder werden zu Erwachsenen mit innerer Unruhe, die beispielsweise Schwierigkeiten haben, lange am Schreibtisch zu sitzen. Doch das Grundproblem der exekutiven Dysfunktionen bleibt häufig bestehen.
„ADHS ist nur eine Modeerscheinung“
Viele behaupten, ADHS sei eine „Mode-Diagnose“, die Ärzte voreilig stellen. Statistiken zeigen jedoch, dass ADHS schon in älteren medizinischen Berichten vorkommt, nur unter anderen Begriffen (z. B. „Minimal Brain Dysfunction“ in den 1960er-Jahren). Die heutige Häufung hängt eher damit zusammen, dass unser modernes Arbeits- und Schulsystem höhere Anforderungen an Konzentration und Struktur stellt und die Diagnostik verfeinert wurde.
„ADHS ist eine Erziehungsfrage“
Ein weiteres Vorurteil: Schlechte Erziehung sei schuld, wenn Kinder nicht stillsitzen können. Untersuchungen zeigen jedoch, dass ADHS eindeutig neurobiologische Grundlagen hat (Kessler et al., 2006). Zwar können ungünstige Erziehungsstile das Verhalten verschlechtern, aber sie sind nicht die Ursache. Effektive Therapien setzen deshalb auf eine Kombination aus Elternberatung, psychologischer Unterstützung und ggf. Medikamenten – nicht auf reinen Gehorsam.
Typische Kennzahlen zu ADHS – Symptome, Komorbiditäten und Co.
Verteilung der Symptome
ADHS wird häufig in drei Subtypen unterteilt (Brown, 2013):
Vorwiegend unaufmerksamer Typ (ADD): Konzentrationsprobleme, Träumereien, Schusseligkeit.
Vorwiegend hyperaktiv-impulsiver Typ: Ruhelosigkeit, Impulsivität, hoher Bewegungsdrang.
Kombinierter Typ: Mischung aus Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität.
Statistisch betrachtet, findet sich der kombinierte Typus am häufigsten bei Kindern. Bei Erwachsenen dagegen verschiebt sich das Bild Richtung unaufmerksamer Typus – Hyperaktivität zeigt sich häufig eher als innere Unruhe.
Häufige Komorbiditäten
Studien verweisen darauf, dass zwischen 50 und 80 % der ADHS-Betroffenen mindestens eine weitere psychische Störung aufweisen können (Kessler et al., 2006). Dazu gehören:
Depressionen und Angststörungen: Chronischer Stress durch ADHS-Symptome begünstigt depressive Verstimmungen.
Suchterkrankungen: Impulsivität und Dopaminmangel erhöhen das Risiko für Nikotin-, Alkohol- oder Drogenabhängigkeit.
Essstörungen (z. B. Binge Eating): Manchen fällt es schwer, ihr Essverhalten zu kontrollieren, was zu Essanfällen oder emotionalem Essen führen kann.
Solche Zahlen verdeutlichen, dass ADHS oft ein komplexes Gesamtbild erzeugt und nicht isoliert betrachtet werden sollte.
Mehr Infos über innere Zerreißproben und Anpassungsschwierigkeiten finden Sie in unserem Blog-Artikel „Anpassungsstörung und ADHS“.
Braucht es wirklich so viele Medikamente? – Ein Blick auf die Fakten
Methylphenidat und Co.
Eine kritische Diskussion dreht sich um den gestiegenen Verbrauch von Stimulanzien wie Methylphenidat (Ritalin, Medikinet). In der Tat zeigen Statistiken in vielen Ländern eine Zunahme von Verordnungen, was mancherorts als übermäßiger Gebrauch verteufelt wird. Doch Fachkreise weisen darauf hin, dass zuvor ADHS schlicht unterdiagnostiziert war – die niedrige Verschreibung in den 1990ern war teils ein Ausdruck mangelnder Diagnostik, nicht zwingend ein „normaler“ Zustand (Brown, 2013).
Erfolgschancen und Risiken
Die Wirksamkeitsquoten von Stimulanzien sind hoch: Laut verschiedener Metaanalysen profitieren bis zu 70 % der Betroffenen von einer verbesserten Konzentration und Impulskontrolle (Faraone & Buitelaar, 2010). Allerdings sind Medikamente kein Allheilmittel. Sie wirken oft am besten in Kombination mit Verhaltenstherapie oder ADHS-Coaching. Kritisch sind mögliche Nebenwirkungen wie Appetitminderung, Schlafprobleme oder Herz-Kreislauf-Belastungen.
Die Statistik zeigt also: Wenn eine Diagnose sorgfältig gestellt wird, können Medikamente tatsächlich helfen. Dass nun „alle Kinder Ritalin“ bekommen, ist jedoch ein Mythos – die Verschreibung folgt in den meisten Ländern klaren Leitlinien und ist von Ärzt*innen abzusegnen.
Häufige Missverständnisse rund um Zahlen und Mythen
„ADHS betrifft nur ‚Zappelkinder‘ im Grundschulalter“
Die Statistik zeigt, dass fast 60 % der Kinder mit ADHS mindestens bis ins Teenageralter relevante Symptome behalten und ein erheblicher Teil darüber hinaus. Dieses Missverständnis hält sich dennoch hartnäckig. Es führt dazu, dass viele Erwachsene keine Unterstützung suchen, weil sie glauben, ADHS sei nur ein Kinderthema.
„ADHS ist vor allem ein Problem der westlichen Welt“
Wer sich internationale Studien ansieht, erkennt, dass ADHS in allen Kulturen vorkommt. Unterschiede in den erfassten Prävalenzen ergeben sich durch verschiedene Diagnosestandards und Gesundheitssysteme. Länder, in denen ADHS kaum thematisiert wird, weisen offiziell geringe Raten auf, obwohl Betroffene real existieren.
Wer ADHS hat, ist weniger intelligent“
Ein weiteres Vorurteil dreht sich um den IQ. Dabei zeigt sich in Untersuchungen keine generelle Korrelation zwischen ADHS und Intelligenz (Kessler et al., 2006). Betroffene können ebenso hochbegabt sein wie Schwierigkeiten im Lernalltag haben. Die Diagnose ADHS sagt nichts über die kognitive Leistungsfähigkeit aus, sondern über die Fähigkeit, Aufmerksamkeits- und Impulssteuerung zu regulieren.
Fazit – Warum Zahlen und Fakten entlasten können
Mehr Verständnis dank Statistik
Zahlen und Fakten zu ADHS machen deutlich, dass es sich um ein weit verbreitetes Phänomen handelt, das weder Modeerscheinung noch Erziehungsergebnis ist. Die statistisch signifikanten Überlappungen mit weiteren psychischen Störungen zeigen, wie wichtig es ist, ADHS nicht zu unterschätzen. Viele Betroffene wussten jahrelang nichts von ihrer Störung und machten sich selbst dafür verantwortlich, in Organisation oder Konzentration zu scheitern.
Mythen durch seriöse Diagnose entkräften
Weniger als 20 % aller Menschen mit ADHS werden im Erwachsenenalter rechtzeitig erkannt, so eine häufig zitierte Statistik (Kessler et al., 2006). Das liegt an den Mythen: Wer glaubt, ADHS ende mit 18, sucht keine Hilfe. Wer denkt, ADHS sei bloß eine Erziehungsfrage, traut sich nicht, zum Facharzt zu gehen. Genau deshalb kann das Wissen um Zahlen und Fakten erhellend wirken. Es zeigt, dass ADHS real ist, man damit nicht allein ist und dass es effektive Behandlungen gibt.
Wo Sie mehr erfahren
Falls Sie tiefer in das Thema Symptomatik, Diagnose und Therapien einsteigen möchten, empfehlen wir Ihnen unseren Blog-Artikel „ADHS-Test im Erwachsenenalter“, der die wichtigsten Fragen klärt – von möglichen Testverfahren (z. B. CAARS, HASE) bis hin zu typischen Abläufen in der Diagnostik. Wer sich dagegen fragt, warum er trotz ADHS-Symptomen gut im Job „funktioniert“, könnte in „High Functioning Anxiety und ADHS“ hilfreiche Anregungen finden.
Literatur:
Brown, T. E. (2013). A New Understanding of ADHD in Children and Adults: Executive Function Impairments. Routledge.
Faraone, S. V., & Buitelaar, J. K. (2010). Comparing the efficacy of stimulants for ADHD in children and adolescents using meta-analysis. European Child & Adolescent Psychiatry, 19(4), 353–364.
Faraone, S. V., Biederman, J., & Mick, E. (2006). The age-dependent decline of attention deficit hyperactivity disorder: A meta-analysis of follow-up studies. Psychological Medicine, 36(2), 159–165.
Kessler, R. C., Adler, L., Barkley, R., Biederman, J., Conners, C., Demler, O., … & Zaslavsky, A. M. (2006). The prevalence and correlates of adult ADHD in the United States. American Journal of Psychiatry, 163(4), 716–723.
Polanczyk, G., de Lima, M. S., Horta, B. L., Biederman, J., & Rohde, L. A. (2007). The worldwide prevalence of ADHD: A systematic review and metaregression analysis. American Journal of Psychiatry, 164(6), 942–948. (aktualisierte Fassung 2015)
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