ADHS im Erwachsenenalter: Warum Frauen oft übersehen werden
- David Beck
- 12. Nov.
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 21. Nov.
Warum ADHS bei Frauen häufig übersehen wird – und wie moderne Testverfahren Unterschiede sichtbar machen.

Warum dieses Thema lange übersehen wurde
ADHS galt jahrzehntelang als „Jungenstörung“. In Schulklassen fielen meist jene Kinder auf, die laut, unruhig oder impulsiv waren – und diese Rollen erfüllten eher Jungen. Mädchen dagegen zogen sich häufig zurück, wirkten verträumt, verloren sich in Gedanken oder kämpften still mit Überforderung. Ihr Verhalten passte nicht ins klassische Bild der Hyperaktivität.
Diese Wahrnehmung hat sich bis ins Erwachsenenalter fortgesetzt. Noch heute kommen viele Frauen erst spät darauf, dass ihre ständige Reizüberflutung, das Gedankenchaos oder die innere Unruhe eine gemeinsame Ursache haben könnten. Manche erfahren erst durch die eigene Kinderdiagnose, dass sie selbst betroffen sind.
Eine geschlechtersensible ADHS-Testung ist deshalb entscheidend: Sie hilft, unterschiedliche Lebensläufe, Symptome und Kompensationsstrategien sichtbar zu machen, anstatt sie in ein starres Raster zu pressen.
ADHS im Erwachsenenalter – was dahinter steckt
Neurobiologische Grundlagen
ADHS beruht auf neurobiologischen Besonderheiten im dopaminergen und noradrenergen System. Diese Botenstoffe steuern Motivation, Aufmerksamkeit und Impulskontrolle. Studien zeigen, dass Unterschiede in der Hirnaktivierung – insbesondere im präfrontalen Kortex – bei Betroffenen deutlich ausgeprägter sind (Kessler et al., 2006).
Interessant ist, dass sich hormonelle Faktoren ebenfalls auswirken können. Östrogene beeinflussen dopaminerge Signalwege und damit Aufmerksamkeit und Stimmung. Während des Zyklus, in der Schwangerschaft oder in den Wechseljahren können Symptome bei Frauen spürbar schwanken (Quinn & Madhoo, 2014). Männer erleben dagegen meist stabilere Verläufe, dafür häufiger Probleme mit Impulsivität und Risikoverhalten.
Die biologische Grundlage ist also ähnlich – aber die Ausdrucksformen unterscheiden sich.
Wie sich ADHS bei Frauen und Männern zeigt
Unterschiedliche Schwerpunkte in der Symptomatik
Männer fallen häufiger durch äußere Unruhe, Hyperaktivität oder impulsives Verhalten auf. Sie unterbrechen andere, reden viel, wechseln Themen oder geraten schneller in Konflikte.
Frauen zeigen dagegen meist ein stilleres Muster: Vergesslichkeit, innere Unruhe, emotionale Überforderung und Schwierigkeiten, Strukturen aufrechtzuerhalten. Statt nach außen zu platzen, neigen sie dazu, nach innen zu kompensieren – oft bis zur Erschöpfung.
Diese unterschiedlichen Schwerpunkte führen dazu, dass Männer früher getestet werden, während Frauen sich jahrelang mit Selbstzweifeln und Überforderung quälen, ohne zu wissen, warum.
Komorbiditäten und emotionale Belastung
Während Männer mit ADHS häufiger Substanzkonsum, Impulsivität oder antisoziale Verhaltensmuster zeigen, entwickeln Frauen vermehrt Angst- oder Depressionssymptome. Viele haben zudem ein erhöhtes Risiko für Essstörungen oder psychosomatische Beschwerden (Cortese et al., 2016).
Das Bild ist also nicht „milder“, sondern anders: Frauen erleben ADHS oft als permanente innere Anspannung, Selbstkritik und emotionale Instabilität, die im Außen kaum jemand erkennt.
Gesellschaftliche Faktoren und Masking
Rollenbilder als Verstärker
Soziale Erwartungen prägen, wie wir unsere Symptome erleben und ausdrücken. Mädchen lernen früh, angepasst, organisiert und rücksichtsvoll zu sein. Wer laut oder impulsiv ist, gilt schnell als „unweiblich“. Viele Frauen entwickeln daher Strategien, ihre Unruhe zu überspielen – durch Perfektionismus, Überanpassung oder übermäßige Hilfsbereitschaft.
Dieses sogenannte Masking führt dazu, dass die ADHS nach außen kaum sichtbar ist. Betroffene leisten enorme kognitive Arbeit, um „normal“ zu wirken. Das gelingt eine Zeit lang, hat aber einen Preis: emotionale Erschöpfung, Burn-out-ähnliche Zustände und das Gefühl, ständig an der Grenze zu leben.
Unsichtbare Leistung und spätes Erkennen
Viele Frauen mit ADHS waren in der Schule unauffällig oder sogar sehr leistungsstark – allerdings um den Preis von Stunden über Stunden an zusätzlicher Arbeit. In Studium oder Beruf, wo Selbstorganisation wichtiger wird, bricht diese Strategie oft zusammen.
Wenn dann Depression, Angst oder chronische Überforderung auftreten, wird selten nach ADHS gefragt. Häufig erhalten Frauen erst eine korrekte Einschätzung, nachdem sie selbst aktiv nach einer Testung suchen oder auf Artikel wie diesen stoßen.
Wie eine geschlechtersensible ADHS-Testung aussieht
Schritt 1: Anamnese mit Lebensspannen-Perspektive
Eine fundierte Testung beginnt immer mit einer ausführlichen Anamnese. Dabei werden Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter getrennt betrachtet.
Bei Frauen lohnt es sich, gezielt nach schulischen Belastungen, Organisation, sozialen Anpassungsstrategien und emotionalen Krisen zu fragen. Schulzeugnisse oder Fremdberichte helfen, subtile Hinweise sichtbar zu machen: ständiges Nacharbeiten, häufiges Tagträumen, Vergesslichkeit oder extreme Selbstdisziplin.
Ziel ist nicht, möglichst viele Symptome „anzukreuzen“, sondern ein realistisches Bild des Funktionsniveaus über die Lebensspanne zu erhalten.
Schritt 2: Standardisierte Testverfahren
Im Anschluss folgen wissenschaftlich validierte Fragebögen – z. B. der CAARS zur Selbst- und Fremdbeurteilung oder die WURS-K zur retrospektiven Kindheitsbewertung. Ergänzend können Verfahren wie FPI-R oder BDI-II Komorbiditäten abbilden.
Wichtig ist, dass diese Tests immer im Kontext interpretiert werden. Eine niedrige Punktzahl bedeutet nicht automatisch „keine ADHS“. Frauen neigen dazu, ihre Symptome zu relativieren oder als persönliche Schwäche zu sehen. Hier zählt klinische Erfahrung mehr als reine Summenwerte.
Schritt 3: Strukturiertes Interview
Das semistrukturierte Interview – z. B. DIVA-5 – bildet den Kern der Testung. Es geht nicht nur um „Ja“ oder „Nein“, sondern um konkrete Beispiele aus Alltag, Studium, Arbeit und Beziehungen.
Bei Frauen ist es entscheidend, auch kompensatorische Strategien zu erfassen: übermäßige Planung, ständige Erreichbarkeit, Perfektionismus. Diese Verhaltensweisen verschleiern die eigentlichen Symptome, sind aber Teil derselben Problematik.
Schritt 4: Funktionsbeeinträchtigung im Alltag
Entscheidend ist, ob die Symptome zu realen Einschränkungen führen. Bei Frauen äußert sich das oft subtil: chronische Überlastung, emotionale Instabilität, Entscheidungsschwierigkeiten oder ständiges Gefühl, „nicht genug“ zu leisten.
Die Testung sollte diese Funktionsbereiche strukturiert abfragen – denn sie zeigen den wahren Schweregrad, auch wenn äußerlich alles „funktioniert“.
Emotionale Dimension: Selbstwert und Erschöpfung
Viele Erwachsene mit ADHS beschreiben, dass sie jahrelang dachten, mit ihnen stimme „charakterlich“ etwas nicht. Frauen trifft dieser innere Vorwurf besonders häufig: Sie gelten als organisiert, sozial, empathisch – und merken gleichzeitig, dass sie innerlich ständig kämpfen.
Das Gefühl, trotz enormer Anstrengung immer hinterherzuhinken, führt zu Selbstzweifeln. Manche entwickeln einen ausgeprägten Perfektionismus, um Chaos und Unsicherheit zu kontrollieren. Andere ziehen sich zurück, vermeiden neue Aufgaben oder verlieren das Vertrauen in ihre Fähigkeiten.
Eine Testung kann hier entlastend wirken: Nicht als Etikett, sondern als Erklärung. Sie schafft ein neues Verständnis dafür, warum bestimmte Dinge trotz Willenskraft schwerfallen – und wo gezielte Unterstützung ansetzen kann.
Neurobiologie trifft Alltag – hormonelle Schwankungen und Dopamin
Bei Frauen spielt der Zyklus eine nachweisbare Rolle: In der zweiten Zyklushälfte, wenn der Östrogenspiegel sinkt, nehmen Konzentration und Stimmung häufig ab. Manche berichten, dass sie in dieser Phase unruhiger, reizbarer oder vergesslicher sind.
Auch hormonelle Umstellungen – etwa in Schwangerschaft oder Wechseljahren – können die Symptomatik verändern. Einige Frauen erleben erstmals deutliche Probleme, wenn hormonelle Stabilität nachlässt.
Diese Erkenntnisse sind wichtig für die Interpretation von Testergebnissen: Ein gleichbleibend „milder“ Verlauf bedeutet nicht, dass keine ADHS vorliegt. Er kann vielmehr hormonell moduliert sein.
Beispielhafte Lebensläufe – wie unterschiedlich ADHS aussehen kann
Beispiel 1: Die strukturierte Perfektionistin
Claudia, 36, war in der Schule immer zuverlässig, lernte stundenlang und schrieb gute Noten. Heute arbeitet sie im Marketing, verbringt aber ihre Abende mit Nacharbeiten und Selbstorganisation. Sie wirkt ruhig, freundlich – innerlich rotiert sie. Termine vergisst sie, weil sie zu viele To-dos gleichzeitig jongliert. Lange dachte sie, sie sei einfach „überfordert“. Erst die Testung zeigt: ADHS vom vorwiegend unaufmerksamen Typ.
Beispiel 2: Der impulsive Kreative
Thomas, 29, hat ständig neue Ideen, wechselt häufig Jobs, verliert aber schnell das Interesse. Er ist charmant, redegewandt – und chaotisch. Schon als Kind hatte er Schwierigkeiten, stillzusitzen. Die Testung zeigt ein klassisches kombiniertes Bild: Impulsivität und Unaufmerksamkeit, beide stark ausgeprägt.
Beide erleben denselben Mechanismus – Schwierigkeiten mit Reizfilterung und Selbststeuerung – aber völlig unterschiedliche Ausdrucksformen.
Was eine differenzierte Testung leisten kann
Eine gute ADHS-Testung bietet keine Schublade, sondern Orientierung. Sie erklärt Zusammenhänge: Warum Konzentration, Organisation und Emotionen so reagieren, wie sie reagieren.
Gerade für Frauen kann sie den Kreislauf aus Überforderung und Selbstvorwürfen unterbrechen. Wenn die Symptome einen Namen bekommen, wird aus Selbstkritik oft Selbstverständnis. Erst dann können Coaching, Therapie oder medikamentöse Unterstützung gezielt greifen.
Wer sich in diesen Beschreibungen wiederfindet, kann sich über den Ablauf einer standardisierten ADHS-Testung für Erwachsene informieren. Sie umfasst Interview, Testbatterie und schriftliche Auswertung – wissenschaftlich fundiert und klar strukturiert.
Nach der Testung: Umgang und Perspektiven
Psychoedukation und Strukturhilfen
Nach einer abgeschlossenen Testung beginnt die eigentliche Veränderung. Das Wissen um die eigene Funktionsweise schafft Spielraum, neue Strategien zu entwickeln. Häufig helfen einfache, aber konsequente Strukturen:
Aufgaben schriftlich festhalten statt im Kopf behalten.
Große Projekte in kleine Schritte gliedern.
Reizüberflutung durch bewusste Pausen und Reizreduktion vermeiden.
Frauen profitieren oft von individueller Psychoedukation – nicht als Ratgeberkonsum, sondern als gezielte Reflexion: Wo endet Anpassung, wo beginnt Überforderung?
Therapie und medikamentöse Optionen
Je nach Befund kann eine ärztliche Weiterbehandlung sinnvoll sein. Stimulanzien wie Methylphenidat oder Lisdexamfetamin stabilisieren die Reizfilterung und erhöhen die dopaminerge Aktivität. Für viele bedeutet das nicht „Dämpfung“, sondern erstmals Ruhe im Kopf.
Therapeutisch unterstützen verhaltenstherapeutische Ansätze oder ADHS-Coaching, die helfen, Planung, Organisation und emotionale Regulation zu trainieren.
Wichtig ist, dass jede Behandlung auf einer soliden Testung basiert – sonst bleibt sie Zufall.
Fazit: Gleiche Störung, unterschiedliche Gesichter
ADHS ist keine Frage des Geschlechts, sondern der Erkennung. Männer und Frauen zeigen dieselbe neurobiologische Grundlage, aber unterschiedliche Wege, damit umzugehen.
Während Männer oft durch äußere Impulsivität auffallen, kämpfen Frauen still mit innerer Überlastung. Beide verdienen eine Testung, die nicht nach dem lautesten Symptom urteilt, sondern nach dem tatsächlichen Alltagserleben.
Eine geschlechtersensible ADHS-Testung macht sichtbar, was jahrelang übersehen wurde – und eröffnet die Möglichkeit, Unterstützung gezielt einzusetzen, bevor Erschöpfung, Selbstzweifel oder Depression das Ruder übernehmen.
Wer diese Muster bei sich erkennt, kann sich informieren, wie eine strukturierte ADHS-Testung für Erwachsene abläuft und welche nächsten Schritte sinnvoll sind.
Literatur
Aron, E. N. (1996). The Highly Sensitive Person: How to Thrive When the World Overwhelms You. Broadway Books.
Cortese, S., Faraone, S. V., Bernardi, S., Wang, S., & Blanco, C. (2016). Gender differences in adult attention-deficit/hyperactivity disorder. The Journal of Clinical Psychiatry, 77(4), e421–e428.
DGPPN u. a. (2018). S3-Leitlinie ADHS im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter. AWMF-Register 028-045.Hinshaw, S. P., & Ellison, K. (2022). Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder in Girls and Women. Annual Review of Clinical Psychology.
Kessler, R. C., Adler, L. A., Barkley, R., et al. (2006). The prevalence and correlates of adult ADHD in the United States. American Journal of Psychiatry, 163(4), 716–723.
Quinn, P. O., & Madhoo, M. (2014). A review of ADHD in women and girls. The ADHD Report, 22(2), 1–9.



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